Mo, 3. Aug 2015
Die Königsetappe der zweiten Woche auf dem E5 führt uns nach Südtirol - auf Pfaden, die die Menschen seit Jahrtausenden begehen. So kommen wir auch an der Fundstelle des berühmtesten Leichnams der alpinen Geschichte vorbei, der des Ötzis.
Im Gasthof Gstrein gibt es erst ab 7 Uhr Frühstück. Da lässt die Gastgeberin auch nicht mit sich handeln. Die gestern abgegebene Wäsche können wir aber vorab schon einsammeln und so immerhin gleich den Rucksack startklar machen. 7:30 Uhr als gesetzte Zeit für den Beginn des Wandertages reißen wir nur knapp.
Heute teilt sich die Gruppe wieder in eine gemütlich und eine eher sportlich wandernde Fraktion. Zuerst verabschieden wir uns aber von Jürgen, der die Tour an dieser Stelle abbrechen muss.
Unter blauem Himmel Richtung Similaun
Der Himmel über Vent ist strahlend blau, von fern grüßt der Similaun mit seiner eisbedeckten Flanke bereits im Sonnenlicht. Immer ihn vor Augen wandern wir durch das Niederjochtal vorbei an der Alm Niedertal und einer alten Schäferhütte.
Mit den Schafen hat es in dieser Gegend eine besondere Geschichte, denn sie werden nach uraltem Weiderecht jedes Jahr zu Tausenden aus dem Süden ins innerste Ötztal getrieben. Dieser Schaftrieb muss ein ziemliches Spektakel sein. Immerhin überqueren die Tiere dabei genau die hochalpinen Jöcher, über die wir heute steigen werden. Einige aus unserer Gruppe haben sich dazu gestern noch einen Lichtbildervortrag in Vent angesehen.
Bei der Vorbereitung dieser Tour war der Weg durch das Niederjochtal oft als "langer Ziehweg" beschrieben worden. Wir sind uns aber alle einig, dass der auf keinen Fall langweilig ist oder sich hinzieht, zu schön ist es hier am frühen Morgen. Allerdings ist auch ganz schön Betrieb: Fernwanderer, Tageswanderer, Mountainbiker - sie alle wollen Richtung Similaunhütte oder auf einen der hohen Gipfel und Gletscher ringsum.
Eine Hütte mit dunkler Vergangenheit
Punkt 10 Uhr erreichen wir die Martin-Busch-Hütte, die der Berliner Sektion des Alpenvereins gehört und deren Geschichte ebenfalls recht interessant ist. Ihr Vorgängerbau war die 1877 errichtete Samoar-Hütte, die der DAV-Sektion Brandenburg in den 1930er Jahren zu klein wurde. Also begann man 1938 mit dem Bau einer neuen Hütte names "Hermann-Göring-Haus" - und zwar durch die Organisation Todt. Der Bautrupp hatte eigentlich Schutz- und Rüstungsprojekte in Deutschland und später in den im Krieg besetzten Gebieten auf der To-Do-Liste stehen, also Westwall, Atlantikwall, Führerhauptquartiere, Straßen, Flughäfen, Eisenbahnlinien und Flaktürme, solche Dinge. Hunderttausende Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge wurden von der Organisation Todt eingesetzt. Das Hermann-Göring-Haus bekamen die Nazis nicht mehr fertiggestellt, der österreichische Zoll und anschließend der Alpenverein übernahmen das Gebäude und dessen Ausbau nach dem Krieg, ehe es 1961 von einer Lawine begraben wurde.
Nicht weit hinter der Martin-Busch-Hütte erreichen wir den Abzweig, von dem ein steiniger Pfad zur Fundstelle des ältesten bekannten Alpenüberquerers führt, dem Ötzi. Dort vorbeizugehen wollen sich Dirk, Edgar, Heinz, Max, unser Führer Martin und ich uns auf keinen Fall entgehen lassen! Raphaela, Michelle, Cornelia und Matthias setzen dagegen den direkten Weg zur Similaunhütte fort.
Auf Augenhöhe mit den Eisriesen
In noch einmal verschärftem Tempo nehmen wir den Aufstieg in Angriff. Der ist ziemlich schweißtreibend, denn es geht steil bergan und das ohne Schatten über sich immer stärker aufheizendes Geröll. Eine willkommene Erfrischung liefern da die bald zu querenden Schneefelder. Zum zweiten Mal auf unserer Reise kommen wir über 3.000 Meter hinaus, landschaftlich könnten wir uns jetzt ebenso gut auf dem Mars befinden. Wobei: Der hat keine Gletscher. Mit immer mehr der Eisriesen der Ötztaler Alpen kommen wir nun auf Augenhöhe - absolut faszinierend.
Um kurz vor halb eins sind wir an dem Obelisken, der an den Fund der über 5.000 Jahre alten Gletschermumie am 19. September 1991 erinnert. Das Denkmal steht nicht genau am Fundort, sondern etwa 70 Meter davon entfernt, wobei Teile der Ausrüstung ja eh über ein größeres Gelände verstreut waren. Wir befinden uns auf 3.210 Metern.
Ein paar wenige Höhenmeter packen wir bei der anschließenden Klettertour zur Similaunhütte oberhalb des Tisenjochs noch drauf. Hier wird das volle Programm abgefragt, vom Kraxeln am Seil bis zur mehr oder weniger eleganten Rutschpartie in einer verschneiten Rinne. Wir haben jedenfalls unseren Spaß hier oben. Gegen 14 Uhr erreichen wir die Similaunhütte und treffen dort auf den Rest der Mainzer Wandergesellschaft. Auch Manfred hat seine Schäfchen aufs Niederjoch geführt und ist schon fast wieder im Aufbruch zur Ötzifundstelle. Er wird mit seiner Gruppe auf der Hütte in 3.019 Metern Höhe übernachten. Wir dagegen steigen am Nachmittag noch zum Vernagtsee ab - der 1.300 Meter tiefer liegt. Das wird ein Fest!
Übrigens haben wir auch so ganz nebenbei die Grenze überschritten. Die Similaunhütte ist schon auf italienischer Seite, ebenso die Ötzifundstelle. Irrtümlich hatte man ihn ja zuerst nach Innsbruck gebracht, nach genauer Kartierung mussten die Österreicher "ihren" Ötzi dann an den südlichen Nachbarn abtreten. Nun wohnt der Mann im Südtiroler Archäologiemuseum zu Bozen.
Den türkisblauen See immer vor Augen
Nach dem Mittagessen gehen wir's an. Der Trail hinunter vom Niederjoch ist fast absurd steil und man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie hier ein paar Tausend Schafe die Wand hochkommen sollen. Aber sie tun es. Da können wir uns natürlich schlecht eine Blöße geben. Zügig schreiten wir die rutschigen Serpentinen ab und haben schon nach einer halben Stunde das Schlimmste hinter uns. Von nun an geht es recht gemütlich den Tisentalbach entlang, begleitet vom Zirpen der Grillen, den Pfiffen der Murmeltiere und bald auch den ersten Kühen am Wegesrand.
Martin gibt das Tempo frei, was ich immer ganz schön finde, um mal ein bisschen alleine zu laufen. Ich bin es sonst gewohnt, nur mit Conny unterwegs zu sein, und genieße vor allem die einsamen Gegenden, in die wir beim Wandern oft kommen. In einer Gruppe zu gehen, und das auch noch über mehrere Tage, ja Wochen, ist mir eigentlich fast zu viel der Geselligkeit.
Als wir endlich die Baumgrenze erreichen, denke ich so: "Jetzt eine schattige Stelle, an der man mal die Füße in den Bach halten kann..." - et voilà, es kommt eine schattige Stelle, an der man mal die Füße in den Bach halten kann. Allerdings nicht länger als für ein paar Sekunden, das Wasser ist eiskalt.
Der Weg endet an der Jausestation Tisenhof, die wir zur Erfrischung und zum Sammeln der Gruppe nutzen. Übernachten werden wir auf einem Bauernhof gleich unterhalb der Talsperre, die den türkisblauen Vernagtsee staut.
Urlaub auf dem Bauernhof
Auf dem Obergampfhof erwarten uns einfache Zimmer, die sich auf einer Etage zwei Duschen und Toiletten teilen, und ein ganzes Haus voller ausgestopfter Tiere. Die sind ein bisschen gruselig. Die Bäuerin ist dafür eine sehr herzliche Gastgeberin. Sie erinnert mich an ein Thema, das Thomas vor ein paar Tagen zur Sprache brachte, nämlich dass sich durch den Tourismus das Rollenspiel der Geschlechter komplett umgedreht hat. War früher der Bauer der Ernährer und damit Oberhaupt der Familie, sind durch den Fremdenverkehr die Frauen in diese Funktion geschlüpft. Auf einmal ließ sich mit häuslichen und damit traditionell von Frauen ausgeübten Tätigkeiten viel mehr Geld verdienen als mit der Landwirtschaft.
Die Festlegung der Reihenfolge, in der geduscht wird, verlangt bei uns allerdings ein männliches Machtwort. Das kommt von Dirk: Geduscht wird nach Zimmernummern. Basta! Der eigenen Vorteilnahme erscheint er damit auf den ersten Blick unverdächtig, denn wir haben das letzte Zimmer auf dem Gang. Sein Hintergedanke war allerdings, Zeit zum Hochlegen der Füße rauszuschlagen. Das hat geklappt.
Endlich Schnitzel!
Zum Abendessen beehren wir das Vier-Sterne-Hotel Edelweiß mit unserem Besuch. Schicker Laden. Und er hat Schnitzel auf der Karte, sogar vom Kalb. Bingo! Nur das Salatbuffet ist nicht für zehn hungrige Wanderer ausgelegt. An dieser Stelle ist das bildhafte Wort "Buffetfräße" wohl richtig angebracht. Dirk und ich überlegen kurz, ob wir uns hier nicht die nächsten drei Tage einquartieren sollten. Immerhin verfügt das Haus über einen Outdoor-Whirlpool mit Seeblick. Der Gruppenzwang führt uns nach dem sehr schönen und von hervorragenden Waldbeerschnäpsen gekrönten Abendessen dann aber doch zurück auf den Bauernhof.