Fr, 31. Juni 22
Erbezzo (1.118 m) - Avesa (248 m)
Der letzte Tag auf dem E5 liest sich schon in Zahlen ziemlich furchterregend: 27 Kilometer Wegstrecke, nochmal an die 1.000 Meter im Aufstieg, 1.800 runter – klingt wie die Königsetappe einer Hüttentour im Hochgebirge, ist aber tatsächlich ein langer Marsch über die letzten Hügel vor der Po-Ebene. Und das bei bis zu 36 Grad. Aber irgendwie bin ich total locker vor dieser letzten Etappe.
Das kulinarische Verwöhnprogramm in der Albergo Berna hat mich nach der ja auch schon langen Tour gestern wieder aufgebaut. Auch das Frühstücksbüffet ist fantastisch, lässt keine Wünsche offen. Ich habe mir vorgenommen, das hier alles nur noch zu genießen. Heute Abend wird das Abenteuer vorbei sein und dass ich es jetzt bis Verona schaffe, ist gar keine Frage. Marion und ich sind übrigens die einzigen der Gruppe, für die die heutige Etappe tatsächlich der Abschluss der Alpenüberquerung auf dem E5 ist, allen anderen fehlt noch mindestens ein Teil.
Um kurz vor neun passieren wir das Ortsschild von Erbezzo. Weit schweift der Blick über die Hügellandschaft. Zahlreiche Steinbrüche sind zu sehen, tief eingeschnittene grüne Täler. In der einen Richtung wird der Horizont von grauen Gipfeln begrenzt, in der anderen löst er sich im Dunst der Po-Ebene auf.
Naturwunder aus Kalkstein
Zwar ist auf der heutigen Wanderung Kilometerfressen angesagt. Das bedeutet aber nicht, dass es nichts zu sehen gäbe. Mit der Ponte di Véja erwartet uns sogar ein richtiges Naturwunder, eine der größten Natursteinbrücken Europas mit einer Spannweite von um die 50 Meter. Nur erahnen lassen sich die Ausmaße der Höhle, deren Deckenüberreste der 10 Meter dicke Bogen bildet. Sie soll vor etwa 100.000 Jahren eingestürzt sein und liegt jetzt in Form riesiger Felsblöcke im Talkessel, in den auch einige Wasserfälle plätschern. Nicht schlecht!
Um die Ponte di Veja zu besuchen, muss man nicht unbedingt wie wir ewig durch den Wald wandern, die Attraktion ist bestens für Besucher erschlossen. Oberhalb gibt es einen riesigen Parkplatz, Picknickplätze, eine Trattoria. An einem Kiosk versorgen wir uns mit Erfrischungen und nutzen die Sitzgelegenheiten für eine kleine Rast. Wir sind schon ordentlich ins Schwitzen gekommen.
Man könnte nun auch Schluss machen
Der Parkplatz an der Ponte di Veja bietet auch die Möglichkeit des Ausstiegs aus dem E5, ein Linienbus fährt mehrmals am Tag nach Verona. Für die OASE-Gruppe, zu der wir mal wieder aufgeschlossen haben, endet denn auch hier die Wanderung. Für uns dagegen ist noch lange nicht Schluss. An einem Kletterpark vorbei folgen wir der Straße nach Süden. Und "Straße" ist ein gutes Stichwort, denn ab jetzt werden wir vor allem auf Asphalt laufen. Kein Vergnügen bei der Hitze. Immerhin lässt sich auf den ebenen Strecken gut das Tempo hochhalten. Esther versucht gar, der Motivation mit einem Lied einen Schub zu geben. Das sorgt zumindest für ein paar Lacher.
Dreieinhalb Stunden später kommen wir nach Montecchio, der erste und letzte Ort mit der Gelegenheit zur Einkehr. Wir sind fix und fertig! Die schwüle Hitze, der unangenehme Untergrund, die sengende Sonne, die letzten knapp 13 Kilometer haben uns zugesetzt. Kurz zuvor hatten wir das erste Mal das Ziel in Sicht, Verona. Gut ließen sich die Brücken über der Etsch ausmachen. Dort schließt sich gewissermaßen der Kreis, begann der südliche Teil des E5 doch letzten Sommer in Bozen mit dem Gang über eine Brücke an der Eisack kurz vor deren Zusammenfluss mit der Etsch.
Speicher füllen für den Endspurt
Etwas versteckt in dem kleinen Ort liegt die Trattorio Righetti. Allein hätte ich die nie entdeckt, aber Werner führt uns zielsicher in einen Hinterhof und über eine Treppe auf die Terrasse des Restaurants, die eine herrliche Aussicht bietet. Die meisten Gäste haben das Mittagessen beendet, die Bedienung die Tische abgeräumt. Aber man freut sich natürlich über die durstigen Wanderer aus Deutschland. Ich leiste mir den Luxus, die Trinkflaschen mit kaltem Mineralwasser nachzufüllen, habe längst alles ausgetrunken. Und endlich gibt es das Birra Moretti mal in der 0,66l-Flasche. Da bin ich großer Fan von!
Nicht allen reicht die Pause, um nochmal Kraft zu schöpfen für den Endspurt. Ein Trio beschließt, sich vom Taxi abholen und ins Hotel bringen zu lassen. Als Werner in die Runde fragt, wer weiterwandern will, habe ich kurz den Verdacht, dass es ihm nicht Unrecht wäre, wenn wir alle ... Kommt natürlich nicht in die Tüte! Da muss der Wanderführer jetzt durch.
Abstieg in die "Grüne Hölle"
Gleich hinter Montecchio liegt der Einstieg in das Val Borago. Ein vermooster, mit einem Holzgeländer gesicherter Pfad führt hinab in diese ganz eigene Welt, in der man sich in einem tropischen Urwald wähnt. Drückend heiß ist es zwischen den hohen Felswänden, aber immerhin gut beschattet.
An den Südausläufern der Alpen gibt es einige solcher Canyons. Wo wir durch den engen Sperrbachtobel bei Oberstdorf in die Hochalpen eingestiegen sind, ist die Boragoschlucht nun das passende Ausgangstor. Es kostet einige Mühe, dem Pfad über den Talboden zu folgen, ein paar Mal ist auch ein Bach zu überqueren. Aber wir sind ziemlich begeistert vom letzten Höhepunkt, den der E5 an diesem langen Tag noch für uns bereithält. Fast unverzeihlich, sich diesen Abschnitt zugunsten einer Taxifahrt entgehen zu lassen.
Eineinhalb Stunden benötigen wir für die Wanderung durch die Schlucht, an einer Sperrmauer deutet sich das Ende des Weges an. Wir kommen an einer Wiese am Rande eines Freizeitgeländes raus. Um auf die Straße zu kommen, müssen wir über einen Stacheldraht klettern. Irgendwo haben wir wohl eine Markierung übersehen ...
Wir sind im Süden
Und da ist er wieder: der glühend heiße Asphalt einer Straße. Links und rechts davon Olivenhaine, Wein auf terrassierten Hängen, dazu der durchdringende Gesang der Zikaden – kein Zweifel: Wir sind im Süden angekommen! Und dann links, gleich am Ortsrand von Avesa, eine Bushaltestelle. Die Erlösung! Ich registriere noch, dass der E5-Wegweiser nach rechts zeigt, der Weg über eine kleine Brücke weiter dem Bach folgt. Aber die Gruppe steuert geschlossen auf die Haltestelle zu, wobei niemand eine Ahnung zu haben scheint, in welche Richtung von dort ein Bus fährt und wann überhaupt.
Google Maps hilft weiter. Die App hat die Fahrpläne der Stadtbuslinien von Verona in petto und schlägt eine andere Haltestelle ein paar Straßen weiter vor. Dort, an einem kleinen Platz, gibt es auch eine Trattoria. Die hat allerdings noch zu. So ein kühles Bier käme jetzt schon sehr gelegen. Unsere Gedanken kreisen nur noch darum, möglichst schnell ins klimatisierte Hotel zu kommen. Wir rufen sogar dort an, fragen, ob man uns ein Taxi schicken könnte – vergeblich. Der Bus bleibt unsere einzige Option. Eine Frau versichert, dass wir hier schon an der richtigen Haltestelle wären. Na immerhin. Ich nutze die Zeit, die App TicketBus Verona auf meinem Handy zu installieren, und kaufe schonmal Fahrkarten für alle.
There Is an App for That
Die Busfahrt verläuft dann völlig reibungslos. Man ist ja als Deutscher im Ausland immer wieder verblüfft, wie viel weiter anderswo die Digitalisierung vorangekommen ist und wie einfach sie viele Dinge des Alltags macht. Busfahren zum Beispiel. Zugegeben: Das Entwerten mehrerer Tickets mittels eines an eine Scheibe geklebten QR-Codes ist etwas umständlich. Das muss man aber unbedingt tun, sonst fährt man hier schwarz. Aber ich kann die Route des Busses in Echtzeit verfolgen, sorge dafür, dass wir an der richtigen Station um- und schließlich in der Nähe des Hotels aussteigen.
Die Unterkunft ist ziemlich weit draußen gelegen zwischen zwei Ausfallstraßen im Stadtteil Croce Bianca, ein gelber Kasten, außen wie innen eine Zeitreise in die, tja, gar nicht so einfach... frühen 80er vielleicht? Das Wichtigste für uns aber: Die Klimaanlage funktioniert!
An der Rezeption nehme ich ein Päckchen in Empfang, das ich vor knapp zwei Wochen an mich selbst adressiert hierher geschickt hatte, nachdem ich per Email angefragt hatte, ob sie mir das aufbewahren würden. Nach zwei Tagen hatte DPD schon geliefert. So habe ich nun frische Klamotten und bequeme Sneaker für die Stadt. Gut investierte 18 Euro.
Wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende
Wir feiern das Ende der Wanderwoche gemeinsam in einem netten Lokal in der Nachbarschaft. Aber etwas nagt in mir: der Gedanke, den Weg nicht wirklich zu Ende gebracht zu haben, dass wir vorzeitig in diesen Bus gestiegen sind. Bin ich wirklich 400 Kilometer auf dem E5 gewandert, um dann das eigentliche Ende zu verpassen? Nicht zu wissen, wo genau Schluss ist? Nein! Ich beschließe, am nächsten Tag noch einmal nach Avesa rauszufahren und die Geschichte zu einem würdigen Abschluss zu bringen.
Unterkunft: Euromotel Croce Bianca, Verona
Wegstrecke: 27 km
Höhenmeter: +910 / -1.810
Nützliche Links
Visit Lessinia - Infos für Reisen in die Lessinischen Alpen
Visit Verona - Website des Tourismusbüros von Verona
ATV Verona - Infos zur TicketBus App
Outdooractive - Details und Karten zur Planung des E5-Südteils
Europawanderweg 5 - E5-Programm des DAV Mainz