Mi, 29. Juni 22
Rifugio Campogrosso (1.457 m) - Rifugio Boschetto (1.161 m)
Die letzte Gebirgskette liegt vor uns, danach dürfen wir uns wahrlich "Alpenüberquerer" nennen. Der Abschied von den Bergen fällt denn auch standesgemäß aus, denn der Weg über die Carega-Gruppe erfordert noch einmal Trittsicherheit in alpinem Gelände. Die heutige Etappe gilt als die anspruchsvollste auf dem Südteil des E5 – gehen wir es an.
In der Nacht hat es wieder angefangen zu regnen, aber wenn die Wetter-Apps nicht alle falschliegen, haben wir ein trockenes Fenster zwischen Frühstück und Mittagessen, das zur Überschreitung des Kamms ausreichen sollte. Unser Wanderführer zögert etwas, aber die Alternativen mit Bustransfers erscheinen uns viel zu umständlich und zeitraubend. So schlimm wird das bisschen Niederschlag die Wege nicht ausgespült haben, dass wir es nicht wenigstens probieren sollten.
Bis wir aufgegessen haben – das Angebot im Rifugio Campogrosso verdient ein etwas ausgedehnteres Frühstück – hat der Regen aufgehört. Um 8:45 Uhr brechen wir auf, gehen ein kurzes Stück entlang der Passstraße und nähern uns dann zügigen Schrittes, zuerst durch Wiesen, dann durch Wald, den hoch aufragenden Felstürmen der Cima Carega, mit 2.259 Metern höchster Gipfel des Massivs. Hinter uns schieben sich immer wieder Wolken durch das Tal und über den Passo Campogrosso.
Die Berge fördern eine besondere Gruppendynamik
Auf immerhin 2.084 Meter müssen wir aufsteigen bis zu einer schmalen Scharte zwischen der gezackten Gipfelreihe, bis zur Bocchetta dei Fondi. Auf dem steilen aber selten rutschigen Serpentinenweg überholen wir alle anderen vor uns Gestarteten, noch vor 11 Uhr sind wir oben. Längst haben wir uns den Ruf als Alpenexpress erworben. Wobei wir auch den Hut ziehen müssen vor der führerlosen OASE-Gruppe: Einige Mitwandernde hatten nach der Abreise des Guides die Tour abgebrochen, der Rest hat sich zusammengerauft und trotzt einigermaßen gut gelaunt den Herausforderungen, die es mit sich bringt, wenn man mit vorher völlig fremden Menschen im Gebirge unterwegs ist. Im Vergleich dazu gehen wir glatt als verschworene Gemeinschaft durch. Wie lange wir uns alle kennen würden, sind wir schon gefragt worden. Klar, einige sind schon seit Jahrzehnten miteinander befreundet, aber als Gesamtgruppe: zwischen vier Tagen und einem Jahr.
Auf der Rückseite des Berges empfängt uns dichter Nebel und es dauert nicht lange ehe leichter Nieselregen einsetzt. Wir sind froh, den anspruchsvollsten Abschnitt so schnell hinter uns gebracht zu haben, und schlagen den kürzesten Weg zur nächsten Hütte ein, dem Rifugio Scalorbi. Dabei verlassen wir sogar den E5, der eigentlich rauf zum Rifugio Mario Fraccaroli (2.230 m) führt und von dort die Möglichkeit des Abstechers auf die Cima Carega bietet. Um halb zwölf sind wir an der Hütte (1.767 m) - genau rechtzeitig, denn jetzt schüttet es so richtig.
Ein Dach über dem Kopf kommt sehr gelegen
Das Hüttenteam ist noch gar nicht auf Mittagsgäste eingestellt, aber bringt dann doch ziemlich fix die Öfen auf Temperatur. Rätselhaft das Verhalten der nachfolgenden Gruppe, die lange unschlüssig an einem Wegweiser herumsteht und dann doch nicht einkehrt. Uns kommt die Pause sehr gelegen, um uns zu trocknen und aufzuwärmen. So ein Wetter sitzt man doch lieber in der warmen Stube aus, dazu sind wir uns einig, dass die Hüttenwirte einfach Umsatz verdient haben.
Gegen halb eins setzen wir unseren Weg fort. Die Bedienung hat empfohlen, der Straße talabwärts zu folgen, weil der Wanderweg nun zu nass sein könnte. Wir entscheiden uns aber trotzdem für diesen, zumal es gerade aufhört zu regnen. Und was für ein Glück wir haben! An immer mehr Stellen kommt nun blauer Himmel zum Vorschein, geben die Wolken den Blick auf die uns umgebenden Gipfel frei. Ein paar Meter abseits des Weges sitzt ein Murmeltier vor seinem Bau und schickt uns einen Gruß hinterher. Nach den Almwiesen bei der Malga Campobrun verengt sich das Tal noch einmal, verläuft der Weg teils kettenversichert hoch über dem tief in einer Schlucht gurgelnden Bach. Es ist ein gebührender Abschied vom Hochgebirge.
Gasthaus im Wald
Der Rother-Wanderführer lässt diese Etappe in Giazza enden, dem ersten richtigen Dorf am Ende des Valle di Rivalto. Wir sparen uns aber den Marsch die Straße runter und bleiben im mitten im Wald gelegenen Rifugio Boschetto (1.161 m). Um 14:15 Uhr endet dort bereits unser Wandertag.
Wir kommen wieder im Lager unter, hinter dem Haus geht es eine Stiege hinauf. Das hat viel mehr Betten als wir benötigen, bietet also ausreichend Platz und Stauraum. Ich sichere mir einen Schlafplatz am Fenster. Immerhin zwei Duschen stehen uns zur Verfügung, doppelt so viele wie gestern, die Körperwäsche ist also schnell erledigt.
Es wird dann ein entspannter Nachmittag auf der Terrasse. Nach und nach trudeln auch die anderen E5-Wandernden ein. Die kleine Gruppe mit dem Privatführer hat sich vom Wetter nicht aufhalten lassen und ist tatsächlich auf die Cima Carega gekraxelt. Es wäre allerdings schon grenzwertig gewesen, berichtet mir eine der Frauen. Kurz hätten sie sogar eine Aussicht gehabt, aber der Regen habe sie total durchnässt. Ich denke mir, dass wir da heute alles richtig gemacht haben.
Das Rifugio Boschetto ist berühmt für seine gegrillte Forelle. Die Fische schwimmen hier gleich nebenan in Bassins klaren Bergwassers, frischer kann man sie also gar nicht serviert bekommen. Das ist ja voll mein Ding! Und weil der Nachschub so schnell nicht versiegt, genehmige ich mir gleich zwei davon. Nach dem Essen muss ich unbedingt noch ein paar Schritte gehen, also schaue ich bei den Alpakas vorbei, die hier auf einer Almwiese leben und freue mich, zum ersten Mal in meinem Leben Glühwürmchen zu sehen. Was man auf so einer Alpenüberquerung alles erlebt ...
Unterkunft: Rifugio Boschetto
Wegstrecke: 12 km
Höhenmeter: +640 / -920
Nützliche Links
trentino.com - Touristeninfos zu den Piccole Dolomiti
Outdooractive - Details und Karten zur Planung des E5-Südteils
Europawanderweg 5 - E5-Programm des DAV Mainz