E5 Teil 4 / Tag 3
Rifugio Lancia


Mo, 27. Juni 22

ES BRAUCHT SO WENIG

Passo Coe (1.610 m) - Rifugio Lancia (1.825 m)


Das Höhenprofil der heutigen Tour erinnert an eine Achterbahnfahrt: Gemächlich rauf, dann fast senkrecht hinunter in ein tiefes Tal, aus dem herauszukommen es ordentlich Schwung braucht. Oder Ausdauer. Es wird jedenfalls eine lange, aber wohl auch sehr schöne Wanderung bis zum einsam gelegenen, rustikalen Rifugio Lancia.


Morgens um acht setzen sich zwei Wandergruppen vom Passo Coe aus in Bewegung, wir und die der Bergschule OASE. Das erste Ziel von beiden: der Monte Maggio, dessen Gipfelkreuz man schon vom Rifugio La Stua aus aufragen sieht. Nach einer Stunde stehen wir oben auf 1.856 Metern und wechseln uns beim Fotografieren ab. Rundherum überall alte Schützengräben.


Wir sehen dann zu, schnell weiterzukommen, etwas Abstand zu der großen Gruppe zu gewinnen. Entlang der Südseite des Monte Maggio schlängelt sich ein herrlicher Höhenweg mit sagenhaften Aussichten in dicht bewaldete Täler. Über uns nichts als blauer Himmel – es könnte gar nicht schöner sein!


Blick in bewaldete Täler
Monte Maggio
Gänsemarsch
Felsige Flanke
Wegschlange
Dach über dem Kopf
Grün, grüne, grüne
Hinten kommt die nächste Kette
Felsenkanzel
Es geht runter
LKW

An einem Felssporn legen wir eine Rast ein. Vor uns liegt der Abstieg zum Borcola-Pass und direkt anschließend der Aufstieg zur Hochfläche Sogli Bianchi, die wir genau gegenüber sehen. Eine Brücke wäre jetzt toll.


Im schattigen Wald verlieren wir schnell an Höhe. Das Laub vom letzten Herbst raschelt unter den Füßen, ansonsten ist die Landschaft herrlich grün. Von der seit Monaten anhaltenden Dürre in Norditalien bemerkt man hier nichts. Unvermittelt steht ein verrosteter Laster am Wegesrand. Wie der einst den steilen Weg hochgekommen sein soll, ist uns ein Rätsel. Ob es sich tatsächlich um ein Überbleibsel aus dem Krieg handelt, wie der Rother-Wanderführer behauptet? Dafür sieht der eigentlich noch zu neu aus. 


Einkehr am Passo della Borcola


Nach (ab dem Monte Maggio gerechneten) 600 Höhenmetern Abstieg kommt der E5 an der Passstraße raus, die eine selten befahrene Verbindung zwischen Rovereto im Etschtal und Arsiero im Val d’Astico darstellt. Wir sind damit auch am Talschluss des Val Terragnolo, des Laimtals, einer alten deutschen Sprachinsel, das in den letzten 100 Jahren einen Großteil seiner Bevölkerung verloren hat. Aber zum Glück gibt es eine Kurve weiter noch einen Hof, auf dem für Wandernde gekocht wird, die Azienda Agricola Carotta Stefano mit der Malga Borcola. Es ist zwar erst 11 Uhr, aber damit keinesfalls zu früh für ein Mittagessen, zumal wir wissen, dass das hier die einzige Möglichkeit zur Einkehr auf der heutigen Tour ist. Sogar alkoholfreies italienisches Bier gibt es, eine Seltenheit in der Region, in der man bei der Frage nach "birra senza alcool" bestenfalls auf ein Weihenstephan hoffen darf. Das "La Zero" von Birra Moretti ist eher nach meinem Geschmack.


Nach einer Stunde Mittagspause brechen wir wieder auf. Vom Passo della Borcola geht ein Wiesenweg ab, der bald wieder im Wald verschwindet und uns in unzähligen Serpentinen auf die schon angesprochene grüne Hochebene Sogli Bianchi und damit wieder auf über 1.800 Meter führt. Auch hier oben sind die Spuren des Krieges allgegenwärtig. Gräben, Stellungen, verfallene Unterkünfte. An einer solchen, der ex Malga Costa, legen wir die nächste Pause ein. Zwei Stunden sind es noch bis zu unserem Tagesziel, dem Rifugio Lancia.


Es geht über eine Anhöhe und ins nächste Hochtal, das Val Gulva, das wir in einer langgezogene Kehre auslaufen. Dabei sichten wir die erste Gams der Woche. Es ist aber auch eine wunderbar einsame Gegend hier oben.


Hütte in Sicht!


In der Nähe der Wegkreuzung Sorgente (1.850 m) begegnen wir dann doch mal wieder anderen Wanderern. Hier könnte man abkürzen und direkt Richtung Süden gehen, zum Rifugio Papa. An dem wollen wir aber erst morgen vorbeikommen. Also weiter über den Talhang zum nächsten Sattel. Auf dem fehlen uns nur noch 30 Meter zur 2.000er-Marke. Kurz bergab, dann ist ein Fahrweg erreicht, der uns unterhalb der Felswände des Col Santo über die Alpe Pozze zur traumhaft schön gelegenen Lancia-Hütte bringt.


Wir überfallen das junge Hüttenteam sofort mit allen möglichen Anliegen: Wasser! Bier! Duschen! Für mich aber ohne Alkohol! Wasser bitte medium! Ich muss da an Vogelküken denken, die alle anfangen zu krähen, wenn die Eltern ans Nest geflogen kommen.


Froh zu sein bedarf es wenig


Der Reihe nach: Es gibt auf dieser Hütte keine Duschen. Das Wasser reicht gerademal für die Küche und die Toiletten. Jetzt setzen die fünf Phasen des Trauerns nach dem Modell von Kübler-Ross ein: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz – das alles in ungefähr drei Minuten. So lange brauche ich, um zu sehen, dass es neben den Hocktoiletten ein großes Waschbecken hat, dass sich dort easy ein Waschlappen nassmachen und der verschwitzte Körper bestens damit abreiben lässt. Ich fühle mich wie neugeboren, da sind andere noch mit Phase 1 beschäftigt. Eine auf Hüttentouren stets wiederkehrende Erkenntnis: Man benötigt so viel weniger als man gewohnt ist.


In krassem Widerspruch dazu stehen die Kofferberge, die irgendein Fahrzeug selbst zu dieser abgelegenen Unterkunft gekarrt hat, die zur nun eintreffenden Wandergruppe gehören. In der rustikalen Hütte mit ihren engen Schlafräumen ist das nicht einmal mehr praktisch, denn wohin mit dem ganzen Zeug?


Aber das ist nicht die größte Herausforderung für die Truppe: Ihr Führer musste nach einem positiven Corona-Test abreisen und Ersatz ist nicht in Sicht. Der Guide einer auf gleicher Route wandernden Kleingruppe von vier Personen wird jedenfalls nicht einspringen. Wir sind gespannt, wie das weitergeht.


Irgendwann hat sich die größte Aufregung gelegt, haben alle eine Waschgelegenheit gefunden, sind die Flüssigkeitsspeicher mit Mineralwasser aus Flaschen und Dortmunder Export (!) aufgefüllt. Auf den Almwiesen macht sich eine Herde Schafe breit, während es uns nach drinnen in die Stube zieht, denn jetzt wo die Sonne weg ist, ist's doch empfindlich frisch geworden. Ein leckeres Abendessen, ein paar Schnäpse noch, dann kriechen wir in die Schlafsäcke.


Dortmunder Export auf dem E5

Unterkunft: Rifugio Vincenzo Lancia

Wegstrecke: 18,6 km

Höhenmeter: +1.260 / -1.055


Nützliche Links

Visit Rovereto - Touristeninfos zu dieser abgelegenen Ecke des Trentino

Outdooractive - Details und Karten zur Planung des E5-Südteils

Europawanderweg 5 - E5-Programm des DAV Mainz