20160707 GTA
Passo dei Gialit

Do, Jul 7, 2016

RUNTER KOMMEN SIE ALLE

Von der Alpe Veglia aus wandern wir wieder rüber in die Schweiz und erreichen nach einem gewaltigen Abstieg Gondo am Simplonpass.

Kalt ist es am frühen Morgen in unserem Zimmer in der Albergo Alpino. Das liegt daran, dass Johannes das Fenster die ganze Nacht über sperrangelweit hat offen stehen lassen. Da hält der Seidenschlafsack nicht mehr ausreichend warm. Ich wickel mir noch eine Decke um die Beine, schlafe aber nicht mehr richtig ein.


Das Frühstück bekommen wir von der Dame des Hauses in der kleinen Bar neben dem Laden serviert. Der Cappuccino aus ihrer riesigen Kaffeemaschine gehört mit zu den besten, die ich in meinem Leben getrunken habe. Und das waren schon einige.


Mit uns sitzt der Wanderführer des Summit Clubs beim Frühstück. Er bringt seine Gruppe heute auch an den Simplonpass, allerdings nicht nach Gondo, sondern nach Varzo auf der italienischen Seite. Er berichtet, dass der Abstieg nach Gondo nicht ungefährlich und stark zugewuchert sei und die Tour des Summit Clubs auch deshalb Gondo auslasse. Wir halten es da mit der Kanzlerin: "Wir schaffen das."


Die Alpe Veglia hat nur einen Ausgang


Über die Alpe Veglia spannt sich ein stahlblauer Himmel. Die Luft ist klar und frisch, aber die Sonne scheint schon so kräftig, dass wir direkt im T-Shirt loswandern können. Als wir am Dorf vorbeikommen, wollen sich uns zwei Hausschweine anschließen, werden aber dann doch eingefangen. Der Weg von der Alpe Veglia hinunter folgt dem Wasser. Das Hochtal ist nämlich nur fast komplett von Bergen umschlossen. Durch eine tief eingeschnittene Schlucht stürzt der Torrente Cairasca Richtung Ossola Tal, ein holpriger Fahrweg windet sich weit oberhalb davon den Hang entlang.


Gemäß der Beschilderung müssten wir der GTA in ein Wiesenstück und dann durch einige ausgesetzte Passagen folgen. Machen wir aber nicht, weil an dem Abzweig gerade der Summit Club versammelt ist. Ein paar Serpentinen weiter unten zweigt nochmal ein Weg in den Wald ab. Ein bisschen Schatten wird uns dort gut tun, allerdings müssen wir die eben verlorenen Höhenmeter wieder reinholen, was einige Schweißtropfen kostet. Gefühlt stundenlang laufen wir einen Fahrweg hinauf bis wir endlich die Alpe Vallè erreichen. Hurra, hier hat es einen Brunnen!


Anstrengend geht es weiter auf fast unsichtbarem Pfad zur Alpe Balmelle. Der nächste Brunnen! Und der ist so kalt, dass man es kaum länger als ein paar Sekunden aushält, hier irgendein Körperteil ins Wasser zu hängen. Wir sind ganz allein auf der Alm mit ihren pittoresken Steinhäuschen und legen eine längere Pause ein. Die Salami, die Johannes heute Morgen noch bei der Wirtin ergattert hat, schmeckt fantastisch. Als wir nach einer halben Stunde wieder aufbrechen, kommt uns ein hagerer Trailrunner bergab entgegen. Mit einer Mischung aus Neid über dessen Fitness und absolutem Unverständnis darüber, wie man sich so etwas antun kann, schauen wir ihm hinterher.


Weiter durch ein Wiesenstück zum nagelneuen Wohnhaus, das sich die Besitzer der Alm hier kurz unterhalb des Bergkamms gebaut haben. Eine große Herde schwarz-weißer Wallisischer Ziegen begrüßt uns. Durch Felsblöcke klettern wir zum Passo dei Gialit, dem Übergang Richtung Wallis. Nimmt man die GTA-Varianta nach Varzo muss man den benachbarten Passo Possette ansteuern. Verlaufen ist fast unmöglich, es ist alles bestens ausgeschildert. Vom Pass öffnet sich ein sagenhafter Blick auf den Simplon unter uns, ins Zwischbergental gegenüber und auf die dahinter aufragenden Viertausender Weissmiess, Laggin- und Fletschhorn. Dahinter wiederum liegt das Saas-Tal, mir von lang zurückliegenden Familienurlauben bekannt.

Auf alten Schmugglerwegen ins Wallis


Nun wandern wir auf einem wunderschönen Höhenweg, die gletscherbedeckten Gipfel des Wallis immer im Blick. Wir kommen an einigen verlassenen Almen vorbei. Auf einer davon, der Alpjerung, legen wir noch einmal eine längere Pause ein und dösen in der Sonne. Erstaunlicherweise hat der Brunnen hier die Temperatur von Badewasser. Ob es aus einer Thermalquelle kommt oder sich in den Schläuchen, die zum Brunnen führen, aufheizt, ist nicht zu klären.


Mehrere alte Schmugglerpfade zweigen von dem Höhenweg ab. Wir nehmen schließlich den in der Nähe der Alpe Corwetsch. Der Weg fällt geradezu den Berg runter, auf viereinhalb Kilometern verlieren wir 1.100 Höhenmeter, ein gewaltiger Abstieg. Und wie es uns der Wanderführer beim Frühstück ausgemalt hat: Freude bereitet dieser Weg nur bedingt.


Auf den verlassenen Almen wächst das Unkraut fast brusthoch, der Kontakt mit Brennnesseln ist kaum zu vermeiden. Eine Passage durch eine Rinne ist zwar teilweise mit Drahtseilen versichert, man muss aber extrem vorsichtig sein auf dem losen Geröll. Dazu kommen glitschige Steine, wo Wasserfälle kreuzen, sowie ein größerer Bergrutsch kurz vor der Alpe Bruciata, unter dem der Weg einfach komplett verschwunden ist. Entschädigt werden wir für die Plackerei mit tollen Ausblicken in das tiefe Tal des Simplon.


Endspurt nach Gondo


Auf der Terrasse des ehemals recht stattlichen Wohnhauses der Alpe Bruciata erholen wir uns, dann nehmen wir den Endspurt in Angriff. Ab jetzt ist der Wanderweg auch wieder gepflegt, der letzte Abschnitt bis zur Haarnadelkurve der Simplonpass-Straße ist recht zügig bewältigt. Der Verkehr hier kommt einem fast ein bisschen unwirklich vor nach den Tagen fernab aller Straßen. Wahnsinn auch, mit welchem Aufwand dieser wichtige Transitweg über die Alpen ausgebaut ist.


Auf dem Dach des Tunnels, unter dem zum Schutz vor Lawinen die Straße verläuft, wandern wir nach Gondo, das ehemalige Schmuggler- und Golgräbernest an der Grenze zu Italien. Heute besteht der Ort vor allem aus Tankstellen und eben der Zollstation. Und übernachten lässt sich hier.


Wir haben im Bellevue reserviert, dessen Name irreführend ist, weil man sich in Gondo für eine schöne Aussicht schon auf den Rücken legen müsste, so eng wie das Tal hier ist. Die einfache Pension liegt direkt an der Straße, über die der Schwerlastverkehr gen Italien braust, was mich aber nicht davon abhält, das große Walliser Bier, das ich mir für die heutige Wanderung so was von verdient habe, eben davor sitzend zu genießen. Bis die anderen eintrudeln, habe ich es fast leer.


Hotel ohne Fernseher


Wir beziehen zwei stickig warme Zimmer und wechseln uns unter der Dusche des Etagenbads ab. Irgendwie kommt einem hier alles vor wie auf einer Zeitreise in die 60er und 70er Jahre...


Dabei ist es ein wahnsinniges Glück, dass das Haus noch steht. Im Jahr 2000 riss ein Erdrutsch das halbe Dorf weg. Die Lawine ging genau hinter dem Bellevue vorbei und zerstörte auch einen Teil des Stockalperturms aus dem 17. Jahrhundert. Der ist mittlerweile als Hotel wiederaufgebaut und beherbergt dazu ein Museum über die Zeiten des Goldrauschs in Gondo Ende des 19. Jahrhunderts. Das Hotel hat heute allerdings nicht geöffnet und wäre eh nicht so ganz unsere Preisklasse gewesen.


Im Hotel Stockalperturm würde es aber einen Fernseher geben. Ich erwähne das deshalb, weil am Abend das EM-Halbfinale läuft, unsere Unterkunft aber über keinen Fernseher verfügt. Ja, wirklich, es gibt im Jahr 2016 und während einer Fußballeuropameisterschaft Häuser ohne Fernseher! Johannes erweckt ob der Nachricht aber so viel Mitleid bei unseren Gastgebern, dass nach ein paar Anrufen organisiert ist, dass wir heute Abend Fußball sehen können. Und zwar in Simplon-Dorf. Das ist zehn Kilometer von Gondo entfernt.


Nach dem Abendessen - ein Teller mit leckerem Walliser Schinken, eine semi-leckere Lasagne - bringt also eine Walliserin vier übertrieben fußballverrückte Deutsche in ihrem Kleinwagen über den Pass, setzt diese bei einer anderen Frau in einem anderen Hotel ab, die die Vier zu einer Bar führt, wo die Bedienung sich freut, dass die Übertragung des Spiels mit Beamer und Leinwand sogar Gäste aus dem Ausland anzieht. Geschichten, die der Fußball schreibt.


Zum Fußball nach Simplon-Dorf


Wir reservieren einen Tisch mit bester Sicht und drehen noch eine kleine Runde durch das Dorf. Wirklich schön hier. Im Gegensatz zu Gondo könnte man sich vorstellen, in Simplon-Dorf ein paar Tage Urlaub zu machen. Pünktlich zu den Nationalhymnen sitzen wir dann vor der Leinwand. Außer uns sind nur eine Handvoll anderer Menschen an dem Spiel interessiert.


Ob der Torfolge schwindet auch unser Interesse mit fortschreitender Spieldauer. Wenigstens eine Verlängerung bleibt uns erspart. Einziges Highlight: Johannes und ich gewinnen mit den Rubbellosen einer Brauerei zwei Fanschals der schweizer Nati. Voller Stolz legen wir die uns gleich um, was für großes Hallo sorgt. Sogar fotografiert werden wir. Um das Bild von uns Deutschen im Ausland aufzupolieren, bin ich mir ja für nichts zu schade.


Nach dem Abpfiff gehen wir zum vereinbarten Treffpunkt neben einem Hotel und klopfen an ein Fenster. Eine überaus freundliche Frau fährt uns zurück nach Gondo. Wir revanchieren uns mit 10 Franken Benzingeld, die sie erst nach mehreren Abwehrversuchen annimmt. Einfach gut die Menschen hier. Es ist ja eh mit das Schönste am Reisen, dass man überall auf der Welt gastfreundliche und hilfsbereite Leute trifft. Für die Frau war es selbstverständlich bis spätabends aufzubleiben, um vier Fremden, die sie wahrscheinlich nie im Leben wiedersehen wird, über einen Bergpass zu fahren. Wegen eines Fußballspiels im Fernsehen. Großartig!

Wanderung: 19 km

Höhenmeter: +1.065 / -1.958

Unterkunft: Pension Bellevue, Gondo - 857 m