20160706 GTA
Alpe Buscagna

Mi, Jul 6, 2016

SIND WIR NOCH IN EUROPA?

Die Wanderung von der Alpe Devero zur Alpe Veglia verläuft komplett durch ein Naturschutzgebiet - und ist die Königsetappe unserer Tour.

Neben dem Abendessen wiederholt sich auch das, was uns zum Frühstück auf den italienischen Hütten kredenzt wird. Das weitgehend geschmacklose Weißbrot hat man fast genauso schnell über wie die Bagels und Muffins in amerikanischen Hotelketten. Aber wir sind ja nicht zum Schlemmen hergekommen, sondern zum Wandern. Heute steht sozusagen die Königsetappe an, das "Paradestück" wie der Rother es nennt, von der Alpe Devero zur Alpe Veglia. Kann dieser Tag wirklich noch schöner werden als der gestrige? Das Wetter sieht schon einmal vielversprechend aus. Keine Wolke zeigt sich am tiefblauen Himmel.


Vom Rifugio Castiglioni aus umrunden wir die Ebene der Alpe Devero und steigen beim vorbildlich restaurierten Dörfchen Piedimonte in den dicht bewachsenen Hang zur Alpe Buscagna auf. Als sich oben Bäume und Sträucher so langsam lichten und den Blick auf Wiesen, Bäche und Berge freigeben, fühle ich mich wieder in die Sierra Nevada versetzt. Ein unglaublich schönes Hochtal ist das hier. Im Grunde könnte man sich nun für ein paar Stunden auf einen Stein setzen und einfach nur den Blick schweifen lassen. Wobei es natürlich auch grandios ist, durch diese Landschaft zu wandern.

Ich unternehme allein einen kleinen Abstecher vom Hauptweg zum idyllisch zwischen Felsen und Lärchen gelegenen Lago Nero. Beim sich anschließenden immer steiler werdenden Aufsteig über sumpfige Wiesen und schließlich Fels Richtung Scatta d'Orogna habe ich die anderen bald eingeholt. Kurz darauf zündet Johannes allerdings den Turbo und hängt mich auf dem letzten Stück zum Pass ab. Irgendwas muss da in seinem Müsli gewesen sein...

Die Aussicht vom Scatta d'Orogna ist kaum in Worte zu fassen. Rundherum nichts als fantastische, einsame Bergwelt. Wobei, so einsam ist es hier gar nicht. Mit uns haben noch einige Wandergruppen den Pass erreicht und genießen ein Lunch mit Aussicht. Der Blick in die GPS-App verrät, dass uns nach einem kurzen Ab- ein weiterer Aufstieg erwartet, mit dem Passo di Valtendra ist noch ein Bergpass zu überschreiten. Vom Scatta d'Orogna führt ein Pfad in einen schmalen Felsenkessel mit einem kleinen See, dann geht es durch einen stark zerklüfteten Steilhang.


Mühsam ist der Weg zum Passo di Valtendra


Immer wieder sind Felsrutsche zu queren, dazwischen Passagen durch losen Sand. Eine mit Ketten gesicherte Stufe ist noch eine der leichteren Herausforderungen hier, das Ganze ist ziemlich spaßbefreit. Schließlich erreiche ich als Erster den Passo di Valtendra, wo mich der stürmische Wind fast wieder herunterbläst. Ich suche mir ein geschütztes Plätzchen und warte auf die anderen. Auch eine Gruppe Schweizer schließt auf. Die haben wir vorgestern schon auf dem Rifugio Margaroli getroffen.


Meterhoch liegt der Schnee am Rande des Weges über den Pass. Und dann stehen wir unvermittelt an einer Abbruchkante und schauen hinunter auf die Hochebene Pian Sass Mor. Außer dem gut erkennbaren schmalen Wanderweg fällt uns nichts Menschengemachtes ins Auge - kein Haus, keine Mauer, keine Stromleitung, kein Mast einer Seilbahn, gar nichts. Zu hören ist nur der Wind und das Rauschen eines Wasserfalls. Von rechts oben beäugt uns eine Gams. Fast unwirklich, dass wir uns mitten in Europa befinden. Ich glaube, mir stand der Mund offen vor Staunen...


Steile Abstiege sind mittlerweile meine Spezialität und so dauert es nicht lange und ich habe die Ebene erreicht. An einem Brunnen rastet die Gruppe des Summit Clubs. Macht nichts, ich will auch das kühlende Nass dieses Brunnens genießen. Rucksack fallen lassen, Kopf unter Wasser - herrlich! Als mich meine Mitwanderer erreichen, überlässt uns die Gruppe den Rastplatz und wir verbringen hier eine sehr entspannte halbe Stunde.


Durch hübschen Lärchenwald geht es weiter zur Alm Plan Du Scricc, die tatsächlich bewirtschaftet ist. Mitten durch die Kuhherde führt der Weg wieder parallel zum ziemlich wild tosenden Rio Frua in den Wald, in dem es grünt und blüht, dass es nur so eine Pracht ist. Noch blühen die Alpenrosen nur vereinzelt, in ein paar Wochen dürfte das hier ein einziges rosarotes Blütenmeer sein. Und wenn irgendwann der Herbst einzieht und die Lärchen sich verfärben... Hach, was für ein Fleckchen Erde!


Fast bedauern wir es, dass die heutige Wanderung dann doch so langsam zuende geht. Wir erreichen die Alpe Veglia, einen anscheinend ringsum von Gebirge umgebenen Kessel mit ein paar hingewürfelten Weilern. Über allem thront der 3.553 Meter hohe Monte Leone mit seiner Gletscherkappe. Schon wieder so ein Kalendermotiv - nur in echt vor unseren Augen.


Kaum zu glauben, dass die Alpe Veglia beinahe mal einem Staudammprojekt geopfert worden wäre. Zum Glück verläuft irgendwo tief unter ihr der Simplontunnel, den die aufgestauten Wassermassen wohl bedroht hätten. So hatten Umweltschützer und Bewohner die Ingenieure auf ihrer Seite und der Staudamm wurde nie gebaut, stattdessen das Gebiet 1978 als erstes im Piemont als "Parco Naturale" unter Schutz gestellt. Seit 1995 sind die Alpe Veglia und die Alpe Devero in einem großen Naturpark zusammengeschlossen. Sicher ohne Übertreibung eine der schönsten Landschaften Europas.


Wo übernachten wir eigentlich?


Nun müssen wir aber noch eine Unterkunft finden. Eine Email-Anfrage beim Pächter der hiesigen Hütte des italienischen Alpenvereins wurde Johannes nämlich ein paar Tage vor der Reise abschlägig beschieden. Er sei leider raus, aber bis wir kommen würde sich eventuell ein neuer Pächter finden, ansonsten gebe es mehrere andere Herbergen. Die Hütte Citta di Arona ist denn auch tatsächlich geschlossen. Im Winterraum finden wir zwar bezogene Betten vor, aber bei Sabines Vorschlag hier zu schlafen, protestiere ich. Ich bin im Urlaub! Bevor ich da in einer Kammer ohne Wasser und Strom übernachte, muss schon ein Notstand eintreten.


Da wir wissen, dass das 2-Sterne-Hotel La Fonte recht teuer ist, fragen wir erstmal im benachbarten Albergo Lepontino an. In dem sind allerdings schon der Summit Club und die Schweizer untergekommen, kein Zimmer mehr frei. Aber sie arrangieren für uns eine Übernachtung in einem Bed & Breakfast grad jenseits des Rio Mottiscia, der die Alpe Veglia in der Mitte durchfließt. Zum Abendessen könnten wir aber gerne einen Tisch im Gasthof haben. Deal!


Sabine, Jutta und Johannes haben Angst, zum vierten Mal Vitello Tonnato serviert zu bekommen und behaupten daher, sie seien Vegetarier. Was für eine dreiste Lüge!


Wir spazieren zum Bed & Breakfast, an dessen Mauern was von "Albergo Alpino" steht. Also wohl ein alter Gasthof. Der gehört zum einzigen Tante-Emma-Laden am Ort und ist eigentlich mehr oder weniger eine Baustelle. Anscheinend wird das Haus gerade auf Vordermann gebracht. Wir sind überrascht, zwei kleine, aber frisch renovierte Zimmer mit privaten Bädern gezeigt zu bekommen. Mit so viel Luxus hätten wir nun gar nicht gerechnet. Für 25 Euro pro Nase sind die Zimmer unsere. Top!


Wir kaufen uns Bier und was zu knabbern im Laden und setzen uns auf die sonnenbeschienene Terrasse. Witzigerweise bezieht auch der Wanderführer der Summit Club-Gruppe ein Zimmer bei der rüstigen Wirtin. Ja, so ein bisschen Privatsphäre tut zwischendurch sicher gut.


Der einzige Haken an unserer Unterkunft ist der, dass aus der Dusche nur kaltes Wasser kommt. Dafür gibt es ein richtiges Klo. So eins zum Hinsetzen. Zivilisation, Du hast uns wieder!


Die Qual der Wahl


Vor dem Abendessen genehmigen wir uns ein weiteres Bier auf der Terrasse des Albergo Lepontino, dann setzen wir uns an einen der freien Tische im Restaurant und machen uns sofort über Brot und Croutons her. Das sorgt für Entsetzen bei einer der Bedienungen, denn das ist gar nicht der für uns reservierte Tisch. Also auch nicht unser Brot und nicht unsere Croutons. Oops, scusi!


Und dann passiert etwas Unerwartetes: Es stehen mehrere Hauptspeisen zur Auswahl. Ha! Meine gerade erst zum Vegetarismus konvertierten Begleiter bleiben standhaft bei Minestrone, Gemüse und Käse. Ich nehme Pasta, Gulasch und Polenta. Hinterher leckerer Nachtisch, Espresso - läuft. Wir sind die letzten, die vom Tisch aufstehen. Die meisten anderen Gäste haben sich schon vor dem Fernseher in der Bar versammelt, wo das völlig unwichtige EM-Halbfinale Portugal gegen Wales läuft. Da können wir gut drauf verzichten. Morgen Abend gilt's, da spielt Deutschland gegen Frankreich.


Im letzten Dämmerlicht laufen wir zurück zu unserer Herberge und fallen in die frisch bezogenen Betten. Was für ein Tag das war...

Wanderung: 17,2 km

Höhenmeter: +1.048 / -938

Unterkunft: Albergo Alpino, Isola (1.750 m)