1. Okt 2021
Wo die Provinzen Südtirol, Trentino und Venetien aufeinandertreffen, liegt der gigantische Bergstock der Sellagruppe, kurz einfach Sella genannt. Ihr höchster Gipfel ist der Piz Boè mit 3.152 Metern. Am nördlichen Rand der Sella steht ihm die Pisciadùspitze gegenüber. Die lässt sich vom Grödner Joch aus erwandern - Trittsicherheit und Schwindelfreiheit vorausgesetzt.
Berühmt ist der Pisciadù-Klettersteig, einer der bekanntesten der Dolomiten. Man kann ihn bei der Fahrt über das Grödner Joch schon von der Straße ausmachen, vor allem die Hängebrücke, die in schwindelerregender Höhe über eine Schlucht führt. Auf dem Parkplatz kurz unterhalb der Passhöhe auf der Gadertaler Seite sind Wandernde eher in der Unterzahl. Die meisten legen hier schon Klettergeschirr an. Wir nicht. Wir nehmen uns den Normalweg, den Wanderweg 666A Richtung Ütia Pisciadù vor, zur Hütte also. 1,5 Stunden Aufstieg verspricht der Wegweiser.
Aufstieg durch das Val Setus
Moderates Einlaufen kann man hier vergessen, es geht gleich ordentlich bergan über Schotterflächen. Endlos scheinen die Serpentinen durch die schuttgefüllte und von steilen Wänden eingerahmte Schlucht des Val Setus. Uns bleibt nichts übrig, als geduldig einen Schritt hinter den anderen zu setzen. Ich mag solche monotonen Anstiege ja ganz gerne, kann dabei wunderbar abschalten. Conny dagegen schließt fluchend zu mir auf, als ich vor einer flacheren Passage durch einen Kessel auf sie warte.
Nur anscheinend hat der Weg uns in eine Sackgasse geführt. Am Talschluss gibt es links oben einen mit Drahtseilen und Eisenklammern versicherten Steig über steile Felsstufen. Das ist schon eher auch nach Connys Geschmack. Sie weiß nur nicht so recht, wohin mit den Wanderstöcken, denn wir haben nur einen kleinen Rucksack dabei, an dem schon meine befestigt sind.
Nach eineinhalb Stunden haben wir es geschafft und stehen am oberen Ende des Val Setus und damit auf der Hochfläche, die den Sellastock auf halber Höhe als breites Ringband umgibt. Wie große Schiffe auf dem Meer ragen allerlei Gipfel aus dem Plateau hervor, darunter vor uns die Cima Pisciadù. Noch habe ich Conny gegenüber nur vage angedeutet, dass unser eigentliches Ziel deren Spitze ist.
Hütte in Traumlage
Nach einer kurzen Verschnaufpause spazieren wir leicht bergab zum Rifugio Pisciadù. Schon seit 1903 gibt es hier oben eine Schutzhütte des italienischen Alpenvereins. Die Lage könnte gar nicht schöner sein! Von der Terrasse aus sieht man nicht nur die Cima Pisciadù als atemberaubend steile Wand vor sich aufragen, man blickt auch in einen Felsenkessel mit einem grün schimmernden See, dem Lech de Pisciadù. Links von dem lässt sich gut der weitere Aufstieg entlang der Westflanke des Berges ausmachen. Und den nehmen wir uns nun vor! Sind ja nur noch 400 Höhenmeter bis zum Gipfel ...
Eine wahnsinnig tolle Kulisse ist das hier oben mit dem sich im See spiegelnden Sas da Lech. Aber all zu sehr sollte man den Blick nicht schweifen lassen, sondern sich besser auf die eigenen Schritte konzentrieren, denn es geht nun wieder am Drahtseil über den Fels. In den Tritten lauern Eis und Schneereste. Conny deponiert die Stöcke am Wegesrand. Die braucht es hier oben definitiv nicht.
Die Südseite ist eine Treppe
Über einen steilen Schotterhang erreichen wir eine Senke auf der Südseite des Gipfels, die Sella di Val di Teta. Reste eines Schmelzwassersees glitzern in der Sonne. Wie über Treppenstufen führt nun der finale Aufstieg Gesteinsschicht für Gesteinsschicht zum Gipfelkreuz. Okay, ganz so bequem wie auf einer Treppe ist das Ganze nicht. Die Markierung ist nicht eindeutig und folgt mehreren Routen und ab und an bedarf es auch eines beherzten Griffs in den Fels, um die nächste Stufe zu erklimmen. Sonderlich ausgesetzt ist die Passage allerdings nicht. Grandios ist der Blick auf die uns umgebenden Türme und Pfeiler, die die Krone der Sella bilden, und bald taucht auch der Piz Boè mit seinem auffälligen Telefon-Reflektor aus den Wolken auf.
Um 13 Uhr und damit drei Stunden nach Aufbruch vom Parkplatz stehen wir am Gipfelkreuz der Pisciadùspitze. Mit 2.985 Metern bleibt sie nur knapp unter der 3.000er-Marke, die auf der ganzen Sella nur der Piz Boè knackt. Der gilt als "leichtester Dreitausender" der Dolomiten. Von der Seilbahnstation am Sass Pordoi muss man da auch nur noch 200 Höhenmeter überwinden. Wir sind von der Passstraße aus nun 1.000 Meter aufgestiegen.
Den Horizont begrenzt der Alpenhauptkamm
Kaum erwähnt werden muss, dass sich uns nun eine fantastische Aussicht bietet. Zwar hängen zwischen den Geislerspitzen im uns genau gegenüberliegenden Naturpark Puez-Geisler einige Wolken. Über die hinaus geht die Sicht aber bis zu den höchsten Gipfeln der Ötztaler, Stubaier und Zillertaler Alpen. Ohne die Kondensstreifen der Flugzeuge würde sich nichts als tiefblauer Himmel über uns spannen. Nachdem wir genügend Selfies geschossen und uns ins Gipfelbuch eingetragen haben, machen wir uns an den Abstieg, der auf dem uns nun schon bekannten Weg zurück zur Hütte führt. Conny vergisst dabei nicht, ihre Wanderstöcke wieder einzusammeln. Um viertel nach zwei sitzen wir auf der Terrasse des Rifugio und stoßen auf die Eroberung der Cima Pisciadù an.
Kurz bevor die Sonne hinter dem Berggipfel verschwindet brechen wir vom Rifugio auf. Immerhin liegt noch ein langer Rückweg vor uns. Wir folgen dem Pfad Nr. 664 über das Plateau unterhalb der Hütte zum Einstieg ins Val Bosli, das Mittagstal. Das ist eine tief engschnittene Schuttreiße, in die ein an manchen Stellen fast schon senkrechter Steig führt. Wo wir nun doch langsam müde werden, müssen wir uns an den Seilen hier echt zusammennehmen, um sicher runterzukommen.
Der Rückweg zieht sich
Den Weg talauswärts kann man im Winter mit Skiern von der Pordoi-Seilbahn nehmen. An einer Kreuzung biegen wir links ab Richtung Grödner Joch und überqueren das Bett des nahezu ausgetrockneten Mittagsbachs. Zu unserem Entsetzen steigt der Weg nun wieder an. Um die 250 Höhenmeter bergauf sammelt man hier nochmal ein. Die kosten uns die letzten Körner. Dazu wird es auf der Schattenseite der Sella doch langsam unangenehm frisch. An sich ist der Pfad durch lichten Lärchenwald aber sehr hübsch.
An einem unbeschilderten Abzweig verlaufen wir uns dann sogar fast noch. Zum Glück kommt uns ein junges Paar entgegen und gibt Bescheid, dass das der Weg zum kleinen Klettersteig wäre. Über den wollen wir nicht zum Parkplatz - ganz sicher nicht! Schließlich erreichen wir wieder den 666A und steigen über die letzten Serpentinen ab. Ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir die heute Morgen raufgekommen sind, aber das muss wohl so gewesen sein. Gegen 17 Uhr sind wir zurück am Auto. Toll war's!
Nützliche Links
outdooractive.com - Details und Karten zur Wanderung
valgardena-groeden.com - Tourismuswebsite der Ferienregion Val Gardena / Grödner Tal
suedtirolerland.it - die verschiedenen Regionen der südtiroler Dolomiten im Überblick
Südtirol Mobil - Fahrplansuche für Bus und Bahn