2023 Schweiz Tag 6
UNESCO-Weltnaturerbe Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn

Fr, 6. Oktober 2023

TRAUMTOUR INS WELTERBE

Conny muss wegen ihrer Erkältung einen Tag Pause einlegen. Also ziehe ich allein los in den hinteren Teil des Lauterbrunnentals, der zum UNESCO-Weltnaturerbe Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn gehört, traumhaft schön und nahezu menschenleer ist.


Ich starte die Wanderung in Gimmelwald und steige steil, an mehreren Höfen und Weilern vorbei, ab zur Sefinen-Lütschine. Kaum den Bach gequert, geht es wieder bergan - und das eineinhalb Stunden lang. Aber schön ist der Weg durch den Wald, der alle paar Minuten an einem anderen Wasserfall vorbeiführt.


Einkehrmöglichkeiten: keine


Kurz vor dem Berggasthaus Tschingelhorn trete ich aus dem schattigen Wald auf sonnenbeschienene Wiesen. Die Hütte ist schon im Winterschlaf, aber für mich ist ihre Terrasse trotzdem der perfekte Spot zum Frühstücken, denn die Aussicht könnte kaum schöner sein. Direkt gegenüber wachsen die Gipfel von Jungfrau, Äbni Flue, Mittag-, Groß-, Breit- und Tschingelhorn gen Himmel.


Ich packe meine vor ein paar Stunden im Supermarkt gekauften Croissants aus - “Gipfeli”, wie man die in der Schweiz nennt. Im Vergleich mit den französischen Vettern haben die Gipfeli wohl weniger Butter und erinnern eher an Laugencroissants. Sehr lecker. Einen Schluck warmen Kaffees dazu habe ich noch im Thermobecher.


Zwischen Gimmelwald und Obersteinberg
Zwischen Gimmelwald und Obersteinberg
Zwischen Gimmelwald und Obersteinberg
Zwischen Gimmelwald und Obersteinberg

Nur 20 Minuten weiter entlang des nun fast ebenen Weges liegt das Berghotel Obersteinberg. “Wunderschön”, “heimelig”, “wie in einer anderen Welt” – das kann man bei TripAdvisor über die nostalgische, 1889 erbaute Unterkunft lesen, aber auch “ungeheizt” und “ohne Strom”. Und das ist richtig: Es hat keine Elektrizität hier oben, nicht einmal Solarstrom. Neun solcher “Kerzenhotels” soll es in der Schweiz noch geben. Das stellt man sich natürlich wahnsinnig romantisch vor. Glaubt man den Erfahrungsberichten im Internet, ist es aber wohl vor allem ziemlich dunkel und kalt. Wer es rustikal mag und sich eine Auszeit von den Annehmlichkeiten der modernen Welt nehmen will, ist hier jedenfalls genau richtig. Wobei es jetzt im Oktober dafür schon zu spät wäre – auch im Berghotel Obersteinberg ist die Saison bereits beendet.


Berggasthaus Tschingelhorn
Berggasthaus Tschingelhorn
Obersteinberg
Obersteinberg
Obersteinberg
Obersteinberg
Obersteinberg

Wieder unterwegs auf Goethes Spuren


Die Suche nach Ruhe und Einsamkeit soll auch Goethes Motivation gewesen sein, im Oktober 1779, also 100 Jahre bevor das Hotel gebaut wurde, auf den Obersteinberg zu kraxeln. Es muss eine beschwerliche Wanderung gewesen sein. Der Dichter berichtete von schlechtem Wetter, früh einsetzender Dunkelheit und dem Dröhnen von Lawinen als ständigem Begleiter. Immerhin war die Reisegruppe damals hier oben auch quasi von Gletschern umgeben. In seinen Aufzeichnungen stellte Goethe trocken fest: “Wir sind nicht zur Erholung hier, sondern um eine Wanderung durch die Schweiz zu machen.”


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Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental

Kurz hinter dem Hotel gibt es an einem Abzweig die Möglichkeit, ins Tal abzusteigen. Das ist eigentlich genau mein Plan, um die Wanderung zu einer Rundtour zu machen. Es ist aber gerade erst Mittag – das heißt, ich habe noch jede Menge Zeit, die Tour zu verlängern. Also beschließe ich, 300 Höhenmeter draufzupacken und zum Oberhornsee aufzusteigen. Zu schön ist das Wetter, zu herrlich die Landschaft hier oben am Fuße des Breithorns, um ihr jetzt schon den Rücken zu kehren.


Wo geht's hier zum See?


Der Weg nimmt am Talende eine weite Kehre, quert dabei den Zusammenfluss mehrerer Arme der Tschingel-Lütschine und teilt sich dann am Anstieg zu einem Plateau. Ich gehe rechts hinauf und suche den Oberhornsee, der laut Outdooractive-App hier doch gleich auftauchen sollte – aber Pustekuchen: Von dem See ist nur noch eine Pfütze übrig.


Meine Enttäuschung hält aber nicht lange an. Es ist auch ohne See einfach traumhaft schön hier oben. Und vor allem habe ich diese ganze Bergwelt mit ihren Bächen und Hochmoorflächen und rot leuchtenden Blaubeerbüschen für mich allein. Kaum zu fassen, wenn ich an die Touristenmassen denke, die sich jetzt gerade nur wenige Kilometer entfernt auf dem Schilthorn oder dem Jungfraujoch tummeln.


Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental

Ich komplettiere den Rundweg über die Hochebene und beginne gegen halb zwei den durchaus anspruchsvollen Abstieg über steile Serpentinen hinab in einen Talkessel, in den sich unzählige Wasserfälle ergießen, die sich zur Weißen Lütschine vereinen. Dazu zählt der imposante Schmadribachfall, der das Wasser von Breithorn- und Schmadrigletscher über mehrere Felsstufen 270 Meter tief ins Lauterbrunnental stürzen lässt.


Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental
Hinteres Lauterbrunnental

Der Weg folgt dem Wasser talaus über einige Almen. Hier treffe ich dann tatsächlich auch wieder auf Menschen. Es geht an den Ruinen eines alten Bergwerks vorbei, im 17. und 18. Jahrhundert wurde hier Silber und Blei abgebaut, dann hat mich bei Trachsellauenen die Zivilisation wieder. Ich könnte gleich in einen Gasthof einkehren, habe aber noch keinen rechten Hunger. Also marschiere ich durch bis Stechelberg, wobei sich der Weg am Ende doch etwas zieht, vor allem, weil er zum Abschluss dieser bisher so großartigen Wanderung auf Asphalt verläuft. 


Back to Gimmelwald


Gegen 16 Uhr erreiche ich die Talstation der Seilbahn. Ich erkundige mich bei Conny nach ihrem Befinden und ob sie etwas zum Abendessen mag. Dem ist nicht so, was mir die Gelegenheit gibt, für Bier und Pizza in Gimmelwald zu halten. Für beides ist der Weiler nämlich berühmt, vor allem unter amerikanischen Reisenden. Und das liegt an Rick Steves.


Für reiselustige Amerikaner:innen ist Rick Steves, was der Papst für die katholische Kirche ist: Hüter des Schlüssels zum Himmelreich, Verkünder unwiderlegbarer Lehrsätze. Zu denen gehört: “If Heaven isn't what it's cracked up to be, send me back to Gimmelwald."


In seinen Reiseführern und Blogs beschreibt Steves Gimmelwald als verschlafenes Dorf mit mehr Kuhtränken als Briefkästen, in dem koboldhafte alte Männer mit weißen Bärten handgeschnitzte Pfeifen rauchen, während sie dabei zusehen, wie ab und zu ein Bauer eine Wagenladung Heu vorbeifährt. Dieses klischeehafte Bild hat einen wahren Kern, denn im Vergleich zu benachbarten Orten wie Mürren oder Wengen, in denen das bäuerliche Leben fast komplett vom Tourismus abgelöst wurde, hat sich Gimmelwald einen rustikalen Charme bewahrt. Es gibt hier kaum eine Handvoll Unterkünfte – die gehen dafür aber auch nicht mehr als Geheimtipp durch. Rick Steves sei Dank.


Ich bin nur wegen des Biers hier


Zu besonderem Ruhm gekommen ist das Hotel Pension Gimmelwald. Das gibt es schon seit über 100 Jahren und wurde 2006 von einem Engländer übernommen. Der hatte die Eingebung, dass der Name eines der gegenüberliegenden Vorgipfel der Jungfrau doch perfekt wäre für ein dunkles Bier: "Schwarzmönch”. Ein paar Jahre lang tüftelte er im Keller seiner Pension an der Rezeptur und begann schließlich 2014 mit dem Ausschank eines dunklen Lagers, das bald allerlei Preise erhielt. So wurde Gimmelwald zum Pilgerort für Bier-Fans, der Keller schnell zu klein zum Brauen und das Schwarzmönch fortan bei Jungfraubräu in Brienz produziert. Keine Frage, dass ich das probieren muss.


Pension Gimmelwald
Pension Gimmelwald
Pension Gimmelwald

Was soll ich sagen? Das Schwarzmönch ist überaus süffig und setzt diesem herrlichen Wandertag die Krone auf. Vor der Pension in der Sonne sitzend ist das erste Glas schnell ausgetrunken und so hole ich mir drinnen an der Theke ein zweites. Ich brauche einen Grund, noch etwas hocken zu bleiben, denn was sich in dem Gässchen, das an der Pension vorbeiführt, abspielt, ist zu absurd. Es muss bei TikTok oder Instagram Videos von Menschen geben, die hier entlang spazieren und wahlweise verträumt oder begeistert auf die Gipfel gegenüber blicken. Genau diesem Drehbuch folgen nacheinander mehrere junge Pärchen, wobei ER stets der Filmende, SIE die Protagonistin der Szene ist. Ich kann nicht mehr!


Heavenly Pizza


Nach zwei Bier wird es höchste Zeit, etwas zu essen. Dafür gehe ich nach nebenan, in das Mountain Hostel. Das wird von einem jungen Team betrieben und wie alle Unterkünfte weltweit, die “Hostel” im Namen tragen, von ebenso jung(geblieben)en Backpackern und Wandernden bevölkert. Sehr angenehm. “Keep it simple, keep it good” ist das Motto des Hauses, das auch für die Pizza gilt, für die man auf einem Zettel am Tresen vier gewünschte Zutaten ankreuzt. Frisch aus dem Ofen wird sie dann am Platz serviert, den ich draußen im Biergarten eingenommen habe – natürlich wieder mit traumhaftem Ausblick. Es ist schon ein besonderer Ort dieses Gimmelwald, keine Frage. 


Als Absacker genehmige ich mir noch ein rotes Schwarzmönch, dann steige ich satt und glücklich über diesen tollen Tag in die Seilbahn nach Mürren.


Unterkunft: Chalet Raufthubel, Mürren

Wanderung: 18 km / Höhenmeter: +990 / -1.500


Nützliche Links:

Jungfrau Region - offizielle Tourismus-Website 

SBB - Homepage der Schweizerischen Bundesbahn

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